• Wiebke Salzmann

  • Text-Wirkerei

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Die Krimikarte „Der Fluch der Moordenitz“

Ein aus Bernstein geschnitztes Kreuz sah halb aus dem Boden hervor. Sie grub in der Erde, bis sie es ganz herausziehen konnte. „Wie wunderschön ...“

Titel der Krimikarte

Gerade noch mal gut gegangen. Um Haaresbreite ertrinkt Johanna bei einem Kanuunfall, dann entgeht sie nur knapp einem umstürzenden Baum. Sobald der Slawenforscher Radegast Müller auftaucht, gerät sie in Lebensgefahr. Hat Johannas Freundin, die nüchterne Hauptkommissarin Katharina Lütten, recht, der zufolge Radegast Müller an Persönlichkeitsspaltung leidet? Oder erkennt nicht doch Großtante Hilde die Wahrheit? Die Wahrheit über eine Schlacht, über verratene Liebe und einen tausendjährigen Fluch?

Krimikarte „Der Fluch der Moordenitz“ um eine alte Slawenburg

Klappkarte (6-seitig) im DL-Format mit Heft (56 Seiten) im DIN-A6-Format
6 € inkl. MwSt zzgl. Versandgebühr

Erhältlich im Shop

Die Krimis spielen an fiktiven Orten an der Ostseeküste von Mecklenburg-Vorpommern. Die Slawenburg und die Turmhügelburg sowie auch die Radfahrerkirche in Pantlitz an der Recknitz standen hier Pate.

Der Slawenwall in Pantlitz

Slawischer Doppelwall in Pantlitz

der slawische Doppelwall bei Pantlitz
Im Frühjahr, bevor die Blätter austreiben und alles verhüllen, kann man den Doppelwall der Slawenburg bei Pantlitz gut erkennen.

Wo man im Sommer nur einen bewaldeten Hügel wahrnimmt, versteckt sich unter den Bäumen der Rest einer slawischen Burg­anlage aus dem 8. bis 9. Jh. Sie besteht aus einem inneren und einem äußeren Wall, zwischen denen ein (trockener) Graben liegt. Der innere Wall umgibt eine ovale Fläche von 35 m Breite und 45 m Länge. Im Nordwesten schließt sich ein drittes Wallstück an. Von anderen Slawenburgen weiß man, dass die inneren Wälle häufig als Zuflucht dienten, während weitläufigere äußere Wälle häufig Handwerkersiedlungen umschlossen. Ob dieses dritte Wallstück ebenfalls eine Siedlung umfasste, weiß man nicht.
Die Wälle bestanden aus Holzbalken, die entweder kreuzweise als Gitter übereinandergelegt wurden oder Kästen bildeten. Das Ganze wurde dann mit Erde verfüllt. Auf der Wallkrone dienten Palisaden und ein Wehrgang dem Schutz und der Verteidigung.

Die Schlacht an der Raxa

Die Schlacht an der Raxa

Raxa kommt vom slawischen Wort für Fluss. Man weiß nicht genau, wo die Schlacht stattgefunden hat – ob mit Raxa die heutige Recknitz gemeint ist oder doch die Elde. (Die Moordenitz war es sicher nicht, denn die gibt es nur in meiner Fantasie.) Die Lage der Burg auf dem Hügel bei Pantlitz lässt es möglich erscheinen, dass die Schlacht hier stattgefunden hat. Was man genau kennt, ist das Datum der Schlacht: der 16. Oktober 955. Es gibt auch Quellen, die über ihren Verlauf berichten.
So schreibt Thietmar von Merseburg, dass Stoignew gefangen genommen und dann von Otto enthauptet wurde. Widukind von Corvey zufolge enthauptete der Ritter Hosed ihn und brachte Otto seinen Kopf. Stoignews Kopf hat man am folgenden Tag auf dem Schlachtfeld aufgestellt und dort siebenhundert slawische Gefangene enthauptet. Auf dieser zweiten Überlieferung beruht meine Geschichte, zumindest bis zu der Stelle, wo Ritter Hosed Stoignew tötet. Die Fakten, die Johanna auf den Seiten 18 bis 20 zusammenfasst, habe ich verschiedenen Artikeln der Wikipedia entnommen. Der Rest ist Fantasie: Sowohl die Nonne Hathui, als auch die Slawenprinzessin und ihr Fluch sind reine Erfindung von mir.
Im Folgenden fasse ich die Geschichte so wieder, wie ich sie verstanden habe:

der restaurierte slawische Burgwall im Freilichtmuseum Groß Raden
Im Freilichtmuseum Groß Raden kann man einen restaurierten slawischen Burgwall besichtigen – und auch andere nachempfundene Gebäude der dortigen früheren slawischen Siedlung. Der Wall in Groß Raden lag in einem See (heute auf einer Landzunge), nicht auf einem Hügel, fotografiert ist er vom Ufer aus. Ein lohnenswerter Besuch!

Im zehnten Jahrhundert war Otto I. u. a. König von Ostfranken und Herzog von Sachsen. Im Westen grenzte sein Reich an Frankreich und im Osten an die Gebiete der Slawenstämme. Die Slawen hatten die Herrschaft über ihre Länder, waren Otto aber tributpflichtig. Dass das so blieb, dafür hatte der sächsische Markgraf Gero zu sorgen. Dann gab es die üblichen Intrigen und Machtkämpfe. Ottos Sohn zettelte einen Aufstand an, scheiterte jedoch, wurde von Otto aber wieder in Gnaden aufgenommen. Wie genau, weiß man nicht, aber Gero muss dabei irgendwie zwischen die Fronten geraten sein, jedenfalls sank er in der Gunst des Königs und ein Hermann Billung wurde Ottos Stellvertreter in Sachsen, was wohl zu Rivalitäten zwischen Gero und Hermann führte.
Um das weitere zu verstehen, muss man in Hermanns Familiengeschichte wechseln. Als sein Bruder starb, wurde Hermann der Vormund seiner beiden Neffen Wichmann und Ekbert und nutzte das, um Teile von deren Erbe einzuheimsen. Das passte den Neffen, wie man sich denken kann, nicht. Sie organisierten in Sachsen einen Aufstand gegen ihren Onkel, scheiterten jedoch damit und Hermann nahm sie gefangen und führte sie Otto vor. Der ließ Ekbert frei, Wichmann kam in Hausarrest im königlichen Palast. Er konnte 954 fliehen und versuchte zusammen mit Ekbert, einige ihrer angestammten Burgen zu besetzen. Das gelang ihnen nicht, sie wurden von Hermann vertrieben und mussten ins Slawengebiet jenseits der Elbe fliehen. Der Obodritenherrscher Nakon erlaubte ihnen, sich auf einer Burg dort zu verschanzen. Hermann griff die Burg mit einem Heer an, musste aber ergebnislos wieder abziehen. Zur Vergeltung drang nun Wichmann mit einem überwiegend aus Slawen bestehenden Heer nach Sachsen ein und belagerte dort eine Burg bei Lüneburg. Hermanns Heer hatte sich wohl schon aufgelöst, jedenfalls leistete er der Bevölkerung, die sich in die belagerte Burg geflüchtet hatte, keine Hilfe. Es wurde dann vereinbart, dass die Eingeschlossenen die Burg verlassen können, aber Wichmann brach das Versprechen des freien Abzugs, sein Heer massakrierte die Männer und versklavte Frauen und Kinder.
Otto war derweil von einer Schlacht gegen Ungarn in Beschlag genommen. Nachdem er diese im Sommer 955 besiegt hatte und sich wieder anderen Problemen widmen konnte, wollte er Rache nehmen für das Massaker. Er marschierte also mit einem Heer über die Elbe. Hermann hielt sich aus diesem Rachefeldzug heraus, aber Gero zog mit. Zum Heer gehörten auch Slawen vom Stamm der Ranen. Ihnen gegenüber stand ein Slawenheer aus Obodriten, Wilzen und noch anderen, angeführt von Stoinef, dem Bruder des Obodritenfürsten Nakon. Das moorige Gelände behinderte das Vorwärtskommen des Heeres und es gelang den Slawen, die Sachsen am Fluss Raxa einzukesseln.

Wiesen an der Recknitz bei Pantlitz
Blick über die Recknitzwiesen zwischen dem Wasserwanderrastplatz und dem Hügel mit dem Slawenwall bei Pantlitz

Ottos Heer stand also vor der Raxa und kam nicht hinüber, das Ufer war zu sumpfig. Zurück konnten sie aber auch nicht mehr, weil die Slawen den Rückweg mit Baumverhauen abgeriegelt hatten. (Das ist eine Stelle im Bericht, die mir nicht klar ist. Dazu müssten die Slawen ja unbemerkt hinter die Sachsen gelangt sein und ebenso unbemerkt den Baumverhau gebaut haben – einen Baumverhau von nicht unbeträchtlicher Länge, wenn er dem Sachsenheer den Rückweg abriegeln sollte. Andererseites kannten die Slawen das Gelände sicher sehr gut und konnten sich eine Stelle aussuchen, an der der Weg durch Moor rechts und links möglicherweise ohnehin schon versperrt war.) Es war Herbst, der Untergrund nass und man kann sich vorstellen, dass die Sachsen bald krank wurden und hungerten. Otto schickte also Gero als Unterhändler zu Stoinef. Im Gepäck hatte er ein Freundschaftsangebot, in dessen Genuss Stoinef aber erst kommen sollte, nachdem er sich öffentlich unterworfen hatte. Das hätte Stoinef vermutlich ohnehin nicht vor den Augen seines gesamten Heeres getan. Gero tat aber noch ein übriges, um den Frieden zu verhindern, indem er Stoinef verhöhnte und mit der Überlegenheit der Sachsen prahlte. Bald standen die beiden sich gegenüber, zwischen sich den Fluss, und brüllten sich gegenseitig Beschimpfungen zu, bis sie sich schließlich zur Schlacht am nächsten Tag „verabredeten“.

auf dem inneren Wall der Slawenburg in Pantlitz
Der Blick zwischen die Bäume lässt noch erahnen, wie weit der Blick früher vom Wall aus über die Recknitzwiesen reichte. Auf dem Wall selbst und wohl auch auf dem Hügel werden damals keine Bäume gestanden haben.

In der Nacht griff Otto an – oder vielmehr tat er so, als würde er über den Fluss gehen wollen. Während die Slawen damit abgelenkt waren, Otto zurückzuschlagen, halfen die verbündeten Ranen Gero dabei, etwa eine Meile weiter einen Übergang zu finden. (Ich könnte mir denken, dass sie schon eine Idee hatten, wo sie suchen sollten. Sie durften ja nicht riskieren, dass Otto während der Suche die Ablenkungsschlacht verlor. Weit weg kann die Furt m. E. nicht gewesen sein, denn um den Verhau hinter den Sachsen zu bauen, mussten die Slawen die Raxa ja auch überquert haben. Vielleicht hatten die Ranen Spuren von dieser Überquerung gefunden, denen sie zur Furt folgten.) Die Sachsen schlugen drei Brücken über den Fluss, über die das sächsische Heer die Slawen angreifen und dank des Überraschungseffektes besiegen konnte. Stoinef und seine Männer versuchten zu fliehen, wurden aber verfolgt und zu großen Teilen erschlagen.
Auch Stoinef wurde getötet, von einem sächsischen Ritter mit Namen Hosed. Sein Kopf wurde auf dem Schlachtfeld ausgestellt und um ihn herum wurden siebenhundert Gefangene geköpft. Ich sag ja, Sympathieträger waren Ottos Leute auch nicht. Die Obodriten und ihre Verbündeten mussten sich dann doch Otto unterwerfen und ihm Tribut zahlen. Wichmann und Ekbert hatten sich nach Frankreich abgesetzt.

Die Turmhügelburg in Pantlitz

Turmhügelburgen oder Motten

Der Turmhügel in Pantlitz
Der Turmhügel in Pantlitz. Auch seine regelmäßige Form ist ohne Laub besser zu sehen.

Im Ort Pantlitz findet man außerdem einen Hügel, der durch seine regelmäßige Form auffällt. Tatsächlich wurde er im Mittel­alter künstlich aufgeschüttet und war Bestandteil einer Turmhügelburg oder Motte. Die Turmhügelburgen in Mecklenburg-Vorpommern stammen überwiegend aus der Zeit 1200 bis 1300 und wurden von den in die slawischen Gebiete vordringenden Sachsen errichtet. Wann genau die Motte in Pantlitz errichtet wurde, ist nicht bekannt.
Auf dem von einem Graben umgebenen Hügel stand ein Turm, der ein Wohn- oder Wehrturm sein konnte, oder beides. Baumaterial war Holz, auf einem Fundament aus Feldsteinen. Oft errichtete man erst den Turm und schüttete dann den Hügel darum herum auf (der Turm wurde eingemottet.) Die steinernen Reste im Pantlitzer Hügel wurde noch im 20. Jh. als Eiskeller genutzt. Häufig umgaben Palisaden den Turm.

Leseprobe aus dem Krimi „Der Fluch der Moordenitz“

Leseprobe aus dem Krimi „Der Fluch der Moordenitz“

Das Cover zum Krimi 'Der Fluch der Moordenitz'
Das Cover des Krimis „Der Fluch der Moordenitz“. Man blickt durch die Öffnung des inneren Rings des slawischen Doppelwalls auf die Radfahrerkirche von Pantlitz

„Wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Johanna wandte sich um und führte die Gruppe Ortschronisten und Ortschronistinnen weiter in den Park hinein. Sie überlegte schon, wie sie die Führung unauffällig beschleunigen konnte. Der Himmel war inzwischen pechschwarz, die Kronen der Parkbäume schwankten bedrohlich und das ferne Donnergrollen war zu einem äußerst nahen Donnern geworden.

„Diesen Park hat mein Ururgroßvater, der Freiherr Gustav von Musing-Dotenow zu Moordevitz angelegt. Sie sehen hier die Allee aus Magnolien, die auf eine Idee meiner Urururgroßmutter Friederike zurückgeht.“ Sie hoffte, sie hatte sich mit den Urs nicht verzählt, sie konnte sich nie merken, welche Generation der Freiherrnfamilie was getan oder nicht getan hatte. „Leider haben nicht alle Bäume bis heute überlebt, aber Sie sehen, dass die Lücken den übrigen die Gelegenheit bot, prächtige Kronen zu ...“

Herthas Räuspern ließ sie innehalten. Die Haushälterin hatte es sich nicht nehmen lassen, die Führung der Chronisten durch den Schlosspark zu begleiten. Zum einen wusste sie viel mehr über die Familien- und sonstige Geschichte als Johanna selbst, zum anderen wachte sie mit Argusaugen darüber, dass die Chronistenhorde nicht die Wege verließ. Und nun war genau das geschehen. Einer der Historiker, ein dürrer Mann mit runder Nickelbrille, Korksandalen, zwei verschiedenfarbigen Socken und einem wirren Haarkranz um den ansonsten kahlen Schädel, der sich als Slawenforscher Radegast Schulze vorgestellt hatte, stand in einigen zehn Metern Entfernung vor einer Linde und starrte sie an. Merkwürdigerweise starrte er den Stamm an, die meisten Menschen blickten versonnen in die Kronen von Bäumen. Allerdings war auch der Stamm etwas Besonderes, innen hohl und in drei Teile aufgespalten, zeugte er von dem ungeheuren Alter des Baumes. Obwohl Johanna bei jedem Sturm Angst hatte, er könnte das Ende der über tausend Jahre alten Linde bedeuten, wölbte sich immer noch eine hausgroße leuchtend grüne Krone über dem zerklüfteten Stamm.

„Die alte Linde. Da sollte er nicht stehen. Niemand sollte da stehen“, meldete sich jetzt Tante Hilde.

Johanna verkniff es sich zu fragen, warum man da nicht stehen sollte. Hilde ging es nicht um die Gefahr von herabfallenden Ästen. Sie würde eine ihrer langen Geschichten aus ihrem reichhaltigen Sagenschatz zum Besten geben. Dazu war jetzt keine Zeit, denn Hertha marschierte bereits strammen Schrittes zur tausendjährigen Linde hinüber. Johanna lief hinterher, sie musste den Mann vor Hertha retten. Sie erreichte ihren Hausdrachen nach wenigen Metern und setzte zum Überholen an. Ein Donnerschlag krachte, ihre Hände fuhren zu den Ohren. Ein Blitz schoss aus der Linde in die Wolken, ein Ast brach ab und stürzte zu Boden. Weißlich violette Funken schlugen über auf den abtrünnigen Chronisten. Hertha und Johanna standen stocksteif. Der Mann schwankte kurz, blieb aber stehen. Johanna lief hinüber.

„Geht es Ihnen gut? Alles in Ordnung mit Ihnen? Äh – hallo?“

Der Mann wandte sich um und Johanna wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Ein Schauer überlief sie. Seine Augen waren von einem Bernsteinbraun, das sie noch nie gesehen hatte. Vor allem aber waren sie leer, blicklos wie Glasaugen. Wie hypnotisiert starrte er zwar in Johannas Rich­tung, schien sie jedoch nicht wahrzunehmen und stand wie in Trance.

Blick über die Recknitzwiesen auf den Hügel mit dem Slawenwall
Blick von der Recknitz aus über die Wiesen auf den Hügel, auf dem der Doppelwall liegt. Rechts die Radfahrerkirche von Pantlitz. Auf diesen Wiesen könnte die Schlacht an der Raxá im Oktober 955 stattgefunden haben.

Hertha rief derweil bereits einen Krankenwagen. Zwei Mitglieder der Chronistengruppe kamen herbeigelaufen und mit ihrer Hilfe schaffte Johanna es, Herrn Schulze zur Sicherheit in die Schocklage zu bringen. Die ganze Zeit starrten diese blicklosen hellbraunen Augen zu ihr auf, wandten sich keinen Augenblick ab, blinzelten nicht ein einziges Mal. Die Härchen auf Johannas Armen stellten sich auf, sie fröstelte. Sobald der Slawenforscher sicher auf dem Boden lag, die Füße auf einer Parkbank, zog sie sich zum Stamm der Linde zurück. Sie strich sich über die Arme, doch die Gänsehaut blieb.

„Kommen Sie weg von dem Baum!“, rief Hertha jetzt hinüber. „Da können jeden Moment noch mehr Äste abbrechen.“

Johanna brauchte eine Weile, bis sie aus ihrem Grauen auftauchte und Herthas Worte begriff. Aber ihr Hausdrachen hatte recht. Sie trat ein paar Schritte zur Seite und sah an der Linde hinauf und hinunter. Sie machte nicht den Eindruck, als käme noch mehr Holz herunter. In den letzten Jahrhunderten hatte sie wahrscheinlich auch schon schlimmere Unwetter erlebt. In Bodennähe hatte sie eine Stelle in der Rinde, eine Art Narbe, als hätte mal jemand versucht, sie zu fällen. Gut, dass es ihm nicht gelungen war.

Der abgebrochene Ast hatte beim Sturz eine junge Birke umgebrochen und aus dem Boden gerissen. Die Sonne trat unter den Wolkenrand und schickte einen rötlichen Strahl zwischen die Bäume. In der aufgerissenen Erde blinkte es auf. Johanna bückte sich und sank dann auf die Knie.

Ein Kreuz. Ein aus Bernstein geschnitztes Kreuz sah halb aus dem Boden hervor. Sie grub in der Erde, bis sie es ganz herausziehen konnte. „Wie wunderschön ...“

Herthas Stimme riss sie aus ihrer Bewunderung. „Kommen Sie vielleicht endlich weg von dem Baum? Ich möchte nicht die letzte Haushälterin derer von Musing-Dotenow sein!“

Gehorsam setzte Johanna sich in Bewegung, stolperte noch auf den letzten Metern, weil sie mehr auf das Bernsteinkreuz als auf den Boden achtete. Sie strich mit dem Finger über die eingravierten, aber fast bis zur Unkenntlichkeit verwitterten Muster und merkte kaum, wie Hertha sie herüber-*zerr­te und auf die Parkbank drückte. Sie hielt den Bernstein vor ihr Gesicht und drehte ihn im Sonnenlicht.

Ein Schatten fiel auf das Kreuz. Johanna sah auf, aber es war nur Hilde, die stirnrunzelnd hinter ihr stand und es betrachtete.

„Hübsch, nicht? Sieht aus, als wäre es schon alt“, wandte Johanna sich zu der alten Dame um, die eigentlich gar nicht ihre Tante und vom Alter her ohnehin eher eine Großtante war. Hilde nickte bedächtig. „Es ist alt. Sie sollten es tragen, Fräulein Johanna. Und ... ich muss etwas nachsehen. Was, wenn die Zeit der Linde um ist?“ Sprach’s, drehte sich um und verschwand mit erstaunlich flinkem Schritt zwischen den Magnolien.

„Wenigstens kommt der jetzt wieder zu sich“, murmelte Hausdrachen Hertha mit Blick auf den Slawenforscher in Schocklage.

In der Tat. Als Johanna zu ihm hinunter sah, blinzelte er, runzelte dann die Stirn und sah sich um. Sein Blick war jetzt der normale Ausdruck eines verwirrten Menschen. „Wieso liege ich hier auf dem Boden? Welch ein wundervolles Bernsteinobjekt Sie da haben, 10. Jahrhundert, aus der Zeit der Schlacht an der Raxa.“

Bevor Johanna fragen konnte, wie er das so schnell erkannt hatte, erschienen die Rettungssani­täter.

*

Blick auf den Wall auf dem Turmhügel
Blick auf den kleinen Wall und seine Öffnung auf dem Turmhügel in Pantlitz, vom Hochufer auf der Rückseite aus. Das Bild ist mit Teleobjektiv aufgenommen, auf den realen Turmhügel kommt man (im Gegensatz zu dem fiktiven in Moordevitz) nicht hinauf. Ein Eiskeller soll sich aber tatsächlich dort befunden haben und bis 1945 genutzt worden sein.

Blau schillernd flog etwas quer über den Fluss und verschwand im Schilf. Nein, da saß der Eisvogel! Johanna konnte ihr Glück nicht fassen – noch nie zuvor hatte sie einen Eisvogel gesehen. Sie verharrte unbeweglich, das Paddel steckte noch mit dem rechten Blatt im Wasser. Eine Haarsträhne kitzelte sie an der Nase, jetzt bloß nicht niesen. Der kurzschwänzige Vogel saß unbeeindruckt auf einem umgeknickten Schilfstengel und putzte sich mit seinem langen, geraden Schnabel das Gefieder, erst unter dem einen Flügel, dann unter dem anderen. Er wandte Johanna den kupferfarbenen Bauch zu. Jetzt drehte er sich, sodass sie das Rückengefieder bewundern konnte. Eine Farbe wie ein tropischer Ozean.

Ein schabendes Geräusch, wie von einem Spaten in Erde, ließ den Vogel auffliegen, im Augenblick war er verschwunden. Das Schilf schwankte und raschelte hinter dem Vogel. Schade, da waren bestimmt wieder Wildschweine in den dichten Halmen, die den Eisvogel verscheucht hatten. Es wären nicht die ersten, die Johanna heute hörte. Auch wenn sie diese wenigstens nicht roch.

Dann merkte Johanna, dass sie ein Problem hatte. Sie hatte nicht bedacht, dass die Moordenitz ein Fluss war. Und auch wenn die Moordenitz nur eine sehr geringe Strömung hatte, sie hatte eine. Was in Johannas Fall dazu geführt hatte, dass sie jetzt mit ihrem Kajak im Uferschilf feststeckte. Es war ihre erste Paddeltour und bislang hatte sie gedacht, Ein- und Aussteigen wären die größten Herausforderungen. Jetzt lernte sie, dass es noch weitere gab. Wie kam man denn aus so einem Gewirr wieder heraus, wenn man gar nicht genug Platz hatte, das Paddel zu bewegen? Endlich setzte sich das Kanu in Bewegung. Das Kanu. Nicht jedoch das Paddel. Das hatte sich verhakt und rutschte Johanna aus der Hand. Jetzt trieb sie also paddellos rückwärts. Geistesgegenwärtig griff sie nach einem Halm und stoppte die Bewegung des Bootes. Langsam zog sie sich wieder zwischen die Schilf-­rohre, dahin, wo sie ihr Paddel vermutete. Ja, da lag es. Die vordere Hälfte schwamm auf dem Wasser, die hintere steckte in einem Busch fest. Sie hatte vorhin gar nicht bemerkt, wie nah sie dem Ufer schon gekommen war. Halm für Halm zog sie sich weiter, um längsseits zum Ufer zu kommen und ihr Paddel greifen zu können.

Sie beugte sich vorsichtig vor und streckte den Arm aus. Fast hatte sie das Paddel erreicht, da stutzte sie. Etwas steckte da zwischen Matsch und Gras in der Uferböschung. Etwas, das zu glatt war für einen Zweig und zu braun für einen Stein. Sie griff nach einem Grasbüschel und zog sich und ihr Boot ans Ufer. Jetzt reichte ihre Armlänge aus, um das Ding zu erreichen. Sie pulte es aus der Erde und betrachtete es. Die Form hatte Ähnlichkeit mit einem Fingerknochen. Genau besehen sogar sehr viel Ähnlichkeit mit einem Fingerknochen.

Johanna zuckte zurück. Dann siegte die Neugier. War der wirklich echt?

Er war sehr dunkel, gar nicht so bleich, wie man sich Knochen vorstellte. Oder – nein, da war sie sicher bloß einem Scherzartikel auf den Leim gegangen, den jemand hier verloren hatte. Wenn es hier irgendwo ein Verbrechen gegeben hätte, wüsste sie davon, schließlich war Haupt­­-kommissarin Katharina Lütten Johannas beste Freundin und Mitbewohnerin. Johanna steckte den Knochen ein, in dem Fall war es Plastikabfall, der hier nichts zu suchen hatte. Jetzt musste sie bloß dummerweise ihr Boot wieder rückwärts manövrieren, denn ihr Paddel lag nun schräg hinter ihr. Vielleicht konnte sie sich mit dem Stock dahinten abstoßen ... Sie erschrak, als sich das Gebüsch am Ufer teilte. Ein dürrer Mann mit runder Nickelbrille vor den bernsteinbraunen Augen, einem wirren Haarkranz und verschiedenfarbigen Socken in den Korksandalen trat durch Sträucher und Schilf an die Uferkante. Der Slawenforscher Radegast Schulze. In der Hand hielt er einen Spaten.

„Herr Schulze! Geht es Ihnen wieder besser? Können Sie mir vielleicht mein Paddel ... reichen ...“

Johannas Stimme wurde leiser und langsamer. Schulze stand da wie eine Statue, starrte ohne zu blinzeln zu ihr herunter. Hatte er sie gehört? Sie würde wohl doch selbst nach dem Paddel angeln müssen, aber sie scheute sich, näher ans Ufer und damit näher an diesen unheimlichen Menschen heranzukommen.

Radegast Schulze beugte sich unvermittelt vor und hangelte mit dem Spaten nach dem Paddel. Bald hatte er es am uferseitigen Ende gefasst und hochgehoben. Jetzt streckte er es Johanna hin. Die zuckte zurück, als der leere Blick nun wieder auf ihr lag. Aber immerhin, er reichte ihr das Paddel. Sie streckte sich dem Paddel entgegen und dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Schulze zog das Paddel wieder zu sich her, holte aus wie zum Stoß. Johanna fuhr zurück, was hatte er vor? Ein Zweig streifte ihren Hals, zerrte die Kette mit dem Bernsteinkreuz aus dem Pulloverausschnitt. Radegast Schulze verharrte, blinzelte mehrfach, runzelte die Stirn, starrte auf das Paddel in seinen Händen. Dann sah er Johanna an, schien zu begreifen und kam auf sie zu. Er trat auf ein feuchtes Grasbüschel, der Fuß rutschte ab, der ganze Mann hinterher. Er landete im Matsch, das Paddel flog ihm aus der Hand. Johanna reckte sich dem Paddel entgegen und beugte sich das kleine Stück zu viel zur Seite, das das Boot zum Kippen brachte. Und sie erlebte diesen Moment, in dem man merkt, man fällt und es ist zu spät. Sie platschte sie ins moorige Wasser. Irgendwo schrie jemand, etwas knallte auf ihren Kopf und es wurde dunkel um sie.

Wasserwanderrastplatz an der Recknitz bei Pantlitz
Der Wasserwanderrastplatz bei Pantlitz. Ein schmaler Stichkanal zweigt von der Recknitz ab, an dem Kanal liegt der Rastplatz. Von dort geht in Blickrichtung ein Wiesenweg zur Slawenburg.

Hustend und spuckend kam sie wieder zu sich. Jemand stützte sie, bis sie ausreichend Luft bekam. Jemand mit einer feuerroten Lockenmähne.

„Katti? Wo kommst du denn her? Wir wollten uns doch am Wasserwanderrastplatz treffen?“ Johanna sah ihre Freundin und Mitbewohnerin an und hustete erst mal wieder.

„Wir sind am Wasserwanderrastplatz“, erklärte Katharina. „Dass es zum Ausflug gehört, dass ich dich erst mal vorm Ertrinken retten muss, hattest du mir allerdings nicht verraten.“

„Wasserwanderrastplatz? Wo?“

„Na, da. Da, in den schmalen Kanal hättest du abbiegen müssen.“

„Oh. Habe ich wohl übersehen in dem ganzen Schilf. Und über dem Eisvogel! Ich habe einen Eisvogel gesehen, den ersten meines Lebens – das war so toll, er saß dahinten im Schilf, ganz nah! Und dann hatte ich diesen Unfall, weißt du. Ich bin aus dem Boot gefallen.“

„Nee, ist mir gar nicht aufgefallen.“ Katharina verdrehte die Augen.

„Oh nein, das tut mir so leid! Lebt sie? Wird sie irreparable Schäden davontragen?“

Johanna drehte den Kopf nach der Stimme. Der Slawenforscher war auch noch da und raufte sich die Haare.

„Nee, keine Sorge, die ist immer so“, erklärte Katharina. „Was ist denn eigentlich passiert? Ich hab den Platsch gehört, dann sehe ich das umgekippte Boot und dein ulkiges Bernsteinkreuz im Wasser. Da bin ich rein und habe dich gefunden und rausgezogen. Ich wusste ja, dass dieser Bach moddrig ist, aber so moddrig ...“ Katharina betrachtete missmutig ihre schlammigen, nassen Hosenbeine.

„Es ist meine Schuld, ganz allein meine Schuld. Wenn ich das irgendwie wieder gut machen kann ...“ Der dürre Herr Schulze raufte sich immer noch die Haare.

„Also das Paddel verloren habe ich aber ganz allein, da können Sie nichts für. Sie wollten doch nur helfen.“ Johanna berichtete, was sich abgespielt hatte.

„Na, dann weißt du ja jetzt, warum ich niemals in so ein kleines kippliges Boot steige. Nie. Mals.“ Katharina musterte das arme kieloben treibende Kanu, als würde es gleich das Maul aufreißen und sie verschlingen. Johanna lachte, bereute das aber sofort. Sie fasste nach ihrer Schläfe und bereute auch das. Da würde sich eine Beule bilden. Falsch, da hatte sich schon eine Beule gebildet. Und die wollte nicht berührt werden.

„Alles okay?“ Katharina war ihre Besorgnis anzuhören. „Ist dir schwindlig?“

Johanna konnte sich gerade noch vom Kopfschütteln abhalten. „Nein, ich denke nicht.“

„Schaffst du es bis zur Radfahrerkirche? Da steht mein Auto. Und dann sehen wir, ob wir noch Kuchen essen oder ich dich gleich nach Hause bringe. Helfen Sie mir mal, sie auf die Beine zu bringen?“

Radegast Schulze eilte herbei und mit beider Hilfe richtete Johanna sich vorsichtig auf. Sie horchte in sich hinein, spürte aber immer noch keinen Schwindel. Mit Katharinas Unterstützung würde sie auf jeden Fall auf eigenen Füßen bis zur Kirche kommen. Der Slawenforscher ließ es sich zudem nicht nehmen, die beiden zu begleiten.

Er hatte allerdings eine merkwürdige Vorstellung, welche Themen sich für eine Konversation eigneten. „Sie haben nicht zufällig ein paar Finger gefunden?“, fragte er. „Ich vermisse noch welche.“

Johanna und Katharina sahen erst ihn an, dann starrten sie auf seine Hände. Vollzählig. Beide Hände hatten je fünf Finger.

Dann begriff Johanna, Herr Schulze suchte den Halloween-Knochen. Obwohl er eher nach dem Elfenbeinturm eines Instituts aussah als nach Halloween-Party. „Den hier?“ Sie zog den Knochen aus der Jackentasche.

„Bitte?“ Katharina schnappte sich den Finger und musterte ihn.

„Der ist doch sicher nicht echt“, beschwichtigte Johanna.

„Doch, der ist echt“, erwiderten unisono Katharina und Radegast Schulze.

„Wie – der ist echt?“ Johanna fühlte sich gerade nicht in der Stimmung für schwarzhumorige Scherze. „Wieso ist der echt?“

„Das interessiert mich allerdings auch.“ Katharina zog ihre Marke hervor. „Kriminalpolizei *Musing-Dotenow, Mordkommission, Hauptkommissarin Katharina Lütten.“

Herr Schulze riss die Augen auf, seine Hände fuhren an seine Wangen. „Oh, Gott, nein. Es ist nicht, wie Sie denken! Bestimmt nicht! Ich habe Stoinef nicht ermordet!“

„Ach? Und wer war es dann?“

„Niemand, er ist an Altersschwäche gestorben. Es war ja dann auch Frieden, nachdem Hosed Stoinefs Großvater erschlagen hatte.“

Katharinas Gesicht war ein einziges Fragezeichen, aber bei den Namen dämmerte Johanna etwas. „Hieß dieser Großvater auch Stoinef? Und wurde er in einer Schlacht erschlagen?“, fragte sie den Forscher.

Der nickte eifrig. „Genau. Er ist in der Schlacht an der Raxa umgekommen, also ...“

„Schlacht?“ Katharina hob die Hand. „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“ Ihre Augen hatten diesen Ausdruck, der Johanna sagte, dass es gerade keine gute Idee wäre, Katharina auf den Arm zu nehmen.

Sie legte der Freundin die Hand auf denselben. „Diese Schlacht hat vor über tausend Jahren stattgefunden ...“

„Am 16. Oktober 955“, präzisierte der Slawenforscher.

„Und dieser Knochen ist historisch, meinen Sie? Von der Schlacht?“ Forschend sah Johanna Herrn Schulze an, der erst nickte, dann den Kopf schüttelte. „Ja, sie sind historisch, aber nicht aus der Schlacht. Nicht diese. Ich sammle sie.“

class="leseprobe"„Sie wollen mir erzählen, dass Sie hier am Ufer der Moordenitz nach Knochen buddeln? Im ge­-schützten Schilfgürtel?“ Katharinas Brauen zogen sich zusammen. „Und woher wollen Sie wissen, wem genau diese Knochen gehören? Es steht doch nicht dran!“

„Sie sind von dem Enkel von Stoinef, ich weiß das, weil ...“ Herr Schulze brach ab und sah grübelnd vor sich hin. Er öffnete den Mund, runzelte die Stirn, hob dann hilflos die Hände. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, woher ich das zu wissen glaube.“

„Ja, nee, ist klar. Diese Knochen gehen in die Rechtsmedizin. Keine Widerrede. Wenn die wirklich so alt sind, kriegen Sie sie wieder. Und jetzt Ihre Personalien bitte.“

„Radegast Schulze.“

„Rade... Wie? Ausweis!“

Mit leicht zitternden Fingern zupfte Radegast Schulze seinen Personalausweis aus seinem Portemonnaie und reichte ihn der misstrauischen Kommissarin

.

Die las die Einträge kopfschüttelnd. „Sie heißen wirklich so. Und ich dachte immer, dein Name ist der Seltsamste, den ich je zu hören bekommen würde.“

Johanna runzelte die Stirn. „Was bitte ist an Johanna Henriette Adelheid Charlotte Elisabeth Friederike Augusta Freifrau von Musing-Dotenow zu Moordevitz seltsam?“

Radegast Schulze steckte seinen Ausweis wieder ein und griff nach seinem Spaten. „Aber ich brauche diesen Knochen. Ich brauche alle. Ich muss weiter suchen. Bis ich alle habe.“ Ohne weitere Worte verschwand Schulze in den Moordenitzwiesen und ließ die Freundinnen sprachlos zurück.

„Der mag durchgeknallt sein – nee, der ist durchgeknallt – aber für einen Mörder halte ich ihn tatsächlich nicht“, erklärte Katharina. „Seltsame Augenfarbe hatte der, so ein helles Braun habe ich noch nie gesehen.“

*

„Ist doch immer wieder schön hier. Nee, lass uns mal in den Schatten gehen, bis wir sicher sind, dass dein Kopf mitspielt.“ Katharina schob Johanna auf eine Bank im Schatten einer Fichte. „Ich besorg ... oh, da kommt er schon. Welch ein Service.“

„Aber nur für euch, meine Lieben.“ Tante Hilde, die zweimal in der Woche ehrenamtlich in der Radfahrerkirche die Radfahrer (und bei Bedarf auch verunglückte Paddlerinnen) mit Gebäck, Getränken und Geschichten versorgte, stellte einen Teller mit einem Stück Kirschkuchen vor Johanna und einen mit zwei Stück vor Katharina. „Wenn ihr euch den Kaffee selbst ... Johanna, was ist Ihnen denn passiert?“

„Sie ist mit dem Boot gekentert. Ich sage ja, Boote sind mordsgefährlich. Die Moordenitz ist mordsgefährlich.“ Katharina schüttelte den Kopf und marschierte zur Kirche hinüber, um den Kaffee zu holen.

Blick auf die Radfahrerkirche
An der Radfahrerkirche in Pantlitz bekommen (nicht nur) Radfahrer in der Urlaubssaison Kaffee und Kuchen.

Johanna lachte. „Alles halb so wild. Bloß ein blöder Unfall. Ich habe mein Paddel verloren und der Schulze war beim Anreichen total ungeschickt. Da ist es mir an den Kopf geknallt.“

„Schulze? Dieser Mensch, der an der Linde stand?“

„Genau der. Dass Sie sich den gemerkt haben, Tante Hilde!“

Hilde setzte sich Johanna gegenüber. „Mit dem stimmt was nicht. Ich hatte dieses Ziehen im rechten Ellenbogen. Wenn ich das habe, geht ein Geist um. Es ist diese Linde. Seien Sie bloß vorsichtig, Johanna. Ah, ich sehe, Sie tragen das Kreuz. Das ist gut, das ist sehr gut. Legen Sie es nicht ab, bis diese Chronistentagung vorbei und der Schulze verschwunden ist.“

Katharina erschien wieder und stellte zwei Tassen Kaffee auf den Tisch. „Ich habe vergessen, den gleich zu bezahlen. Immer noch das gleiche?“ Sie kramte ein paar Münzen aus ihrer Hosentasche und streute sie auf den Tisch. Unter den Geldstücken lag der Fingerknochen.

Hildes Augen wurden groß. „Was ist das?“

„Ein Knochen. Fingerknochen. Uralt, wahrscheinlich. Lag am Ufer der Moordenitz im Matsch.“

„Wie alt?“, flüsterte Hilde und rieb sich den rechten Ellenbogen.

Katharina zuckte die Schultern. „Ich schicke ihn in die Rechtsmedizin, dann kann Jacqueline Rüppke sein Alter feststellen. Nicht, dass es am Ende doch ein junges Skelett und mein Sommerurlaub vorbei ist.“

Johanna kaute hastig, um den Mund zum Sprechen frei zu bekommen. „Der Schulze sagt, der Knochen sei von Stoinef. Also nicht von dem Stoinef, sondern von dem Enkel.“ Hilde erbleichte und sackte zusammen. Dann richtete sie sich wieder auf und sah Katharina eindringlich an. „Packen Sie ihn weg. Weit weg. Bitte, Johanna darf den Finger nicht in die Finger kriegen!“

„Äh ...“

„Bitte, Katharina!“ Hilde rang die Hände. „Auf keinen Fall darf sie die Knochen von Stoinef berühren! Sie würde ertrinken! Verbrennen! Von Erde verschüttet! Vom Sturm verweht! Bitte, kann ich mich auf Sie verlassen?“

Katharina war normalerweise nicht auf den Mund gefallen, aber jetzt öffnete sie denselben zweimal und schloss ihn wieder. Erst beim dritten Versuch erwiderte sie: „Auf jeden Fall. Ich verbürge mich persönlich dafür, dass Johanna zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort auch nur in die Nähe dieser Knochen kommt.“

Hilde lächelte erleichtert. „Haben Sie vielen Dank! Auf Sie und die Polizei ist doch immer noch Verlass. Ich danke Ihnen! – Ja, ich komme!“

Sie stand auf und ging zu einer Gruppe Radfahrer hinüber, die dringend einen Schlichter in der Frage des besten Weges brauchten.

Johanna spielte mit dem Bernsteinkreuz, das sie um den Hals trug, und sah Tante Hilde hinterher. „Ich habe die Knochen angefasst. Und ich wäre um Haaresbreite in der Moordenitz ertrunken.“

„Echt jetzt? Du glaubst das? Ich mag Tante Hilde furchtbar gern, aber sie ist die größte Spöken­kiekerin unter der Sonne. Falls ich dich erinnern darf, du bist nicht ertrunken, ich habe dich gerettet. Wenn die Knochen von diesem Stoinef verflucht sind, ist die Kripo Musing-Dotenow offen­bar mächtiger als der Fluch.“

„Sei nicht so unromantisch. Jede anständige, alte Adelsfamilie hat einen Familienfluch. Mach mir meinen nicht kaputt, wo ich endlich einen gefunden habe.“

Johanna versuchte, bei ihren Worten zu grinsen. Doch ihr Blick wanderte über die Wiesen zum dunklen Wasser der Moordenitz.

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© Wiebke Salzmann