Wiebke Salzmann
Wirken an Texten – Wirken von Texten
Der Anblick ließ ihn alle schwingenden Rasen und schwankenden Böden vergessen. Er lief los. Einen Schritt, zwei Schritte, drei Schritte.
Katharina beachtete Pannickes Kopfschütteln nicht, sondern ließ sich vom kurzen Meier auf einem sicheren Weg näher an die Fläche mit Torfmoos und Grasbulten führen. Wasserlachen glitzerten zwischen den Bulten in der Morgensonne und warnten vor dem trügerischen Untergrund. Weiter hinten ging die moorige Fläche in einen kleinen Moorsee über. Schwarzbraun und still lag das Wasser da. Birken und Kiefern spiegelten sich in seiner glatten Oberfläche. Mitten in der Wasserfläche steckte ein abgebrochener Stamm, der ein Haarbüschel aus Gräsern trug. Irgendwo trompeteten Kraniche, ein Frosch platschte ins Wasser und erzeugte Kreiswellen, die sich ruhig ausbreiteten und dann verebbten.
Ein wunderbarer Ort.
Steckte nicht im Moor vor ihnen eine Leiche.
Recht schnell ist Hauptkommissarin Katharina Lütten klar, wer ihre Hauptverdächtige im Fall um die Leiche im Graadewitzer Moor ist. Aber warum und wie hat sie es getan? Der Schlüssel ist eine Sage um eine Geisterfrau im Moor und die Frage, wie man diese auf der Moorgeisterwanderung nachspielen könnte.
Westentaschenkrimi „Moorjungfrauen“
100 Seiten (+ 12 Seiten Anhang) im DIN-A6-Format (hochkant)
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Die Krimis spielen an fiktiven Orten an der Ostseeküste von Mecklenburg-Vorpommern. Diese Geschichte ist inspiriert von einer Sage aus dem Buch „Die Sagen um Graal-Müritz“ von Joachim Puttkammer, zudem gibt sich ein Graal-Müritzer Moorgeist die Ehre.
Der Murmann, ein trollähnliches Wesen, lebt der Sage nach in den Wäldern und Mooren rund um Graal-Müritz. Gewöhnlich sieht man ihn als alten Mann, mittelgroß. Ein langer grauer Bart und buschige Haare bedecken nicht nur seinen Kopf, sondern auch sein von Falten durchzogenes Gesicht beinahe vollständig. Heraus gucken nur die blauen Augen, die dunkelrote Knollennase und der Mund, der meistens lächelt. Denn der Murmann ist ein hilfsbereiter und gutmütiger Troll, rettet im Moor verirrte Wanderer und Pilzsammler. Meist ist er in ein erdbraunes Gewand gehüllt. Er kann aber auch mal als Baumstamm, Holzstück oder Stein erscheinen. Sprechen tut er nicht, wenn er auch alles versteht.
In seinem Namen Murmann steckt das Moor – er bedeutet so viel wie Moormann.
Eines Herbstabends beschloss der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin, Friedrich-Franz II., einen Ausflug in die Wälder um Gelbensande zu unternehmen. Er spannte also seine Stute ein, machte sich auf den Weg und verbrachte einen wunderbaren Abend auf einem Hochsitz bei der Wildbeobachtung. Irgendwann wurde es dunkel und er stieg wieder in seine Kutsche und trat den Heimweg an. Eine Weile trottete die Stute ruhig den Weg entlang. Doch plötzlich blieb sie stehen und weigerte sich trotz allen Zuredens, weiterzugehen. Als der Großherzog vom Kutschbock stieg, um nachzusehen, was los war, sank er im weichen Boden ein. Sie waren ins Moor geraten. Er probierte diese und jene Richtung, aber überall war Moor, das zu durchqueren im Dunkel der Nacht viel zu gefährlich gewesen wäre. Er beschloss, die Nacht dort zu verbringen und bei Tageslicht weiterzusehen. Schon hatte er die Decken für sich und das Pferd zusammengesucht, als ein grünliches Licht erschien. Als es näherkam, entpuppte es sich als eine Kerze in einer Laterne, gehalten von einem alten Mann. Der Murmann, denn kein anderer war es, bedeutete dem Großherzog, ihm zu folgen. Vertrauensvoll setzte die Stute sich in Bewegung und folgte dem Murmann durch das Moor. Auf sicherem Wege führte der Moortroll die Kutsche des Großherzogs durch das grundlose Moor, bis sie einen Weg erreichten, den der Großherzog kannte und auf dem er nach Hause zu seiner bereits angstvoll wartenden Familie gelangte. Der Murmann verschwand wortlos im Nebel.
Quelle zum Murmann, aber auch zur Sage um die Geisterfrau und den Verführer: Joachim Puttkammer (2004): Die Sagen um Graal-Müritz. Klatschmohn-Verlag, Bentwisch
Östlich von Graal-Müritz liegt direkt an der Küste das Ribnitzer Große Moor. Von der Ostsee ist es nur durch die Dünen getrennt. Entstanden ist das Ribnitzer Große Moor aus einem 16 ha großen See – einem Toteisloch, das nach dem Abschmelzen der Eiszeitgletscher vor ca. 12 000 Jahren entstand.
Beim Zurückweichen der Gletscher konnten Eisblöcke abgetrennt werden und isoliert als sogenanntes Toteis liegen bleiben. Strömte nun vom Gletscher weiterhin Schmelzwasser ab, konnte dieses Sand und Kies über dem Eisblock ablagern. Schmolz der Eisblock, hinterließ er einen Hohlraum. Die darüberliegende Sedimentdecke brach ein und ein Toteisloch entstand. Grundwasser konnte das Toteisloch zu einem See auffüllen.
Als es nach der Eiszeit wärmer wurde, verlandete der See allmählich und wurde zu einem Niedermoor. Sedimente lagerten sich auf dem Seegrund ab und Pflanzen wuchsen und nach und nach in den See hinein: Zuerst Moose, und nach Schilf und Großseggen als letztes der Erlenbruchwald. All diese Pflanzen bildeten Torfe, die sich in Schichten übereinanderlagerten. An einigen Stellen wuchs auf dem Niedermoor dann vor etwa 2500 Jahren ein Hochmoor mit Torfmoosen und Wollgräsern auf. Vor 1000 Jahren erreichte das Hochmoor seine größte Ausdehnung.
Moore, die ihr Wasser nur über Niederschläge erhalten, sind Hochmoore; haben sie Zufluss von Grundwasser oder Verbindung zu offenen Gewässern, sind es Niedermoore. Niedermoore können beispielsweise entstehen, wenn Seen verlanden (Verlandungsmoore). Sie können, müssen aber nicht sauer sein, das hängt vom darunterliegenden Gestein ab. Die schwach sauren oder basischen Moore sind nährstoffreich mit entsprechend reichhaltigem Pflanzenbewuchs. Es können sogar Wälder (Bruchwälder) auftreten. Hochmoore sind sehr viel artenärmer als Niedermoore und überwiegend von Torfmoos bewachsen. Sind erhalten ihr Wasser nur durch (nährstoffarmen) Niederschlag und sind recht sauer. Torfmoos stirbt unten ab und wächst oben weiter. Es hat keine Wurzeln und ernährt sich von Regenwasser. Im Laufe der Zeit kann es einen so genannten Schwingrasen bilden – eine auf dem Wasser schwimmende Pflanzendecke. An der Unterseite des Schwingrasens bildet sich Torf, der das Gewässer allmählich auffüllt. Die Torfbildung führt zu einem Aufwölben des Hochmoores. Die Torfschicht wächst pro Jahr nur um etwa einen Millimeter. Damit ein Meter Torf entsteht, dauert es also tausend Jahre! Verschiedene Moore könnten übereinander wachsen, z. B. ein Hochmoor auf einem Niedermoor, wenn die Torfbildung das ursprüngliche Niedermoor vom Grundwasserzufluss abschneidet.
Die Mächtigkeit des Ribnitzer Großen Moores beträgt im Durchschnitt 1 bis 3 m. Im Norden ist das Moor durch die Dünen unterbrochen, setzt sich aber unter ihnen fort. Man findet am Strand mitunter dunkle Brocken angespülten Torfs. Zur Torfgewinnung wurde das Ribnitzer Große Moor seit dem 17. Jahrhundert systematisch entwässert, sodass sich danach keine geschlossene Hochmoordecke mehr bilden konnte.
Im Gegensatz zum Humus besteht Torf aus nicht oder nur unvollständig zersetzten Pflanzenresten. Im getrockneten Zustand ist Torf brennbar und wurde sowohl zum Heizen wie auch sogar für Kraftwerke oder Lokomotiven genutzt. Um Torf gewinnen zu können, muss das Moor entwässert werden. Auf den trockeneren Böden wächst im Laufe der Zeit Moorwald, dessen Bäume dem Torf weiteres Wasser entziehen. Trocknet der Torf aus, wird er durchlüftet und die Sauerstoffzufuhr begünstigt die Zersetzung des Torfs. Das Moor verschwindet. Heute wird versucht, durch Wiedervernässung die Moorwälder zurückzudrängen, die für Regenmoore typische Vegetation zu stärken, die Torfbildung zu fördern und so die Moore zu regenerieren. Dabei spielen auch die alten Torfstiche eine Rolle. Das sich ihnen sammelnde Wasser ist dem ursprünglichen „echten“ Moorwasser sehr ähnlich. In ihnen wachsen daher ähnliche Pflanzen wie in den wassergefüllte Senken eines intakten Hochmoores. In solchen Torfstichen bildet sich deshalb neuer Torf. Da Moore sehr viel Wasser aufnehmen können, sind sie für die Regulierung des Wasserhaushaltes wichtig. Die Entwässerung wirkt sich nicht nur negativ hierauf und auf die Artenvielfalt aus. Die Zersetzung des Torfes führt zur Freisetzung verschiedener Stoffe – so kann z. B. freigesetztes Nitrat das Grund- und Trinkwasser belasten sowie etliche freigesetzte Treibhausgase die Klimaerwärmung beschleunigen.
Wo blieb sie denn nur? Der Himmel hatte sich längst von goldgelb in ein immer dunkler werdendes Türkis verfärbt. Unter den Bäumen würde er bald nichts mehr sehen können. Wobei bei dem, was sie vorhatten, nicht die Augen die wichtigsten Körperteile sein würden. Er grinste. Ein hohes Summen näherte sich seinem Ohr, er schlug zu. Natürlich vergeblich. Warum hatte sie bloß auf diesem Ort im Wald bestanden? In der Nähe dieses mückenverseuchten Moores war nichts romantisch. Wo kamen überhaupt zu dieser Jahreszeit schon die ganzen Mücken her? Er verlagerte sein Gewicht runter von der Wurzel eines dieser unsäglichen Bäume, die den Wald mit ihrem Wildwuchs verunstalteten. Dafür piekte ihn jetzt ein Kiefernzapfen in die Hüfte. Was gäbe er für sein zwei-mal-zwei-Meter-Bett mit dunkelroter Satinbettwäsche, „Je t’aime“ aus dem Lautsprecher statt Mückensirren und ohrenbetäubendem Froschgequake. Kalt wurde es jetzt auch noch.
„Dennis? Bist du noch hier?“
Endlich. Ihre Gestalt erschien zwischen zwei dieser pieksige Nadeln und harte Zapfen produzierenden Kiefern – beim Anblick der kilometerlangen Beine und der fußballrunden Brüste vergaß er Bäume, Zapfen und Mücken. Für das, was dieser unglaubliche Körper versprach, lohnte sich beinahe jedes Ungemach.
„Natürlich, Liebes, ich habe mich nicht von der Stelle gerührt.“
„Komm, ich habe hier ein wunderbares Plätzchen entdeckt, hier wächst sogar Sonnentau. Er glitzert in der Abendsonne, es ist so wunderbar!“
Was für Zeug? Tau gab es bestenfalls in der Morgensonne und welche Sonne auch immer war längst untergegangen. Er rollte entnervt die Augen und erhob sich.
„Aber gerne doch, Liebes, wie du willst.“ Mist, das hatte nicht ganz so liebevoll geklungen, wie es hätte sollen.
Er ging auf die Kiefern zu und – wo war sie denn jetzt? Er trat zwischen die Bäume und sah sich um, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Raschelte es da links im Gebüsch? Nein, rechts von ihm erhaschte er einen kurzen Blick auf langes helles Haar. „Liebes, wo bist du denn?“
Keine Antwort. Seufzend wandte er sich nach rechts. Inzwischen war es unter den Bäumen fast dunkel geworden. Zwischen den Baumkronen sah er den Himmel nachtblau. Ein Stern schickte sein Licht durch das Laub einer Birke. Und – verkörperte dieser Moorwald denn wirklich jedes Klischee? – ein Käuzchen rief. Vorsichtig tastete er sich Schritt für Schritt voran. Bleich erhoben sich die Birkenstämme vor ihm. Ein Glück, wären es dunkle Kiefernstämme gewesen, hätte er sich schon einige Beulen geholt. Er unterdrückte einen Fluch.
„Wo steckst du? Sag endlich was!“
Das hatte absolut nicht mehr liebevoll geklungen.
„Na, hier bin ich doch!“
Verwirrt wandte er sich um, die Stimme war von links gekommen. Tatsächlich, da lehnte sie an einem Baum, streifte den Rock ab, der ohnehin nur ein etwas breiterer Gürtel gewesen war, ließ ihn achtlos fallen. Sie hob die Arme über den Kopf und drehte ein Bein hin und her.
Er lief los – keuchte aber nach den ersten Schritten erschrocken auf. Der Boden schwankte, gab unter seinen Füßen nach, hob sich vor ihm träge in einer bald verebbenden Welle. Als stünde er nicht auf festem Grund, sondern auf etwas Nachgiebigem, Schwingendem. Wie auf seinem Wasserbett.
Hastig trat er zurück, sank mit einem Fuß ein. Kaltes Wasser umspielte seinen Knöchel. Rasch zog er den Fuß heraus, verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß, der noch Halt hatte. Er starrte nach unten, konnte aber außer Moos und Gras nichts erkennen. Eine letzte träge Erhebung, dann lag das Grünzeug wieder unbewegt vor ihm. Was war hier los? Wie konnte Grasboden schwingen wie ein Wasserbett? Und wo war sie jetzt schon wieder abgeblieben? Ihm kam der Gedanke, es könnte eine gute Idee sein, das erotische Abenteuer abzubrechen und nach Hause zu gehen. Aber würde er ohne sie überhaupt wieder hier herausfinden?
„Wo bleibst du denn? Ich warte!“, flötete es vor ihm. Da stand sie, schüttelte die langen, blonden Haare und zog sich das Top über den Kopf.
Der Anblick ließ ihn alle schwingenden Rasen und schwankenden Böden vergessen. Er lief los. Einen Schritt, zwei Schritte, drei Schritte.
*
Es raschelte vor ihnen, hastige Schritte erklangen und verklangen. Hauptkommissarin Katharina Lütten sah forschend zwischen die Bäume, konnte aber nichts erkennen. Vermutlich irgendein Wild, von dem es hier so einiges gab, dem kurzen Meier zufolge. Sie fühlte sich am Ärmel gepackt und zurückgehalten.
„Stopp!“, befahl der kurze Meier, der die fehlende Länge durch ausgeprägte Breite wett machte. „Das is Schwingrasen, da kannste nich’ drauftreten. Sinkste ein.“
„Schwing- was?“ Katharina verharrte, einen Fuß noch in der Luft. Der kurze Meier war vielleicht nicht der Hellste, aber in Wald und Moor kannte er sich aus wie kein zweiter. Wenn er sagte „Nicht weitergehen!“, dann ging man auch besser nicht weiter. Das Naturschutzgebiet „Graadewitzer Moor“ grenzte an sein Jagdrevier und als ehrenamtlicher Ranger sah er hier in der Saison täglich nach dem Rechten, meist in den ersten Morgenstunden. Ohne seine Führung wären sie überhaupt nicht so weit vom Weg abgewichen, zwischen die Bäume, hinein in das Gemisch aus Gras, Moos und Wasserlachen.
„Schwingrasen, verehrte Kollegin“, meldete sich Oberkommissar Pannicke zu Wort. Seine Bügelfaltenhosen steckten ansonsten faltenfrei in gelben Gummistiefeln. „Bei der Verlandung von Mooren – Sie wissen, dass Moore in der Regel im Laufe der Zeit verlanden? Jedenfalls bildet sich zu Beginn ein Rasen, dessen Pflanzen nur durch ihr Wurzelgeflecht zusammengehalten werden und deshalb oft das Gewicht von Menschen nicht … Hören Sie mir zu, Frau Kollegin? Hört mir irgendjemand zu? Nein, natürlich nicht.“
Katharina beachtete Pannickes Kopfschütteln nicht, sondern ließ sich vom kurzen Meier auf einem sicheren Weg näher an die Fläche mit Torfmoos und Grasbulten führen. Wasserlachen glitzerten zwischen den Bulten in der Morgensonne und warnten vor dem trügerischen Untergrund. Weiter hinten ging die moorige Fläche in einen kleinen Moorsee über. Schwarzbraun und still lag das Wasser da. Birken und Kiefern spiegelten sich in seiner glatten Oberfläche. Mitten in der Wasserfläche steckte ein abgebrochener Stamm, der ein Haarbüschel aus blühenden Gräsern trug. Irgendwo trompeteten Kraniche, ein Frosch platschte ins Wasser und erzeugte Kreiswellen, die sich ruhig ausbreiteten und dann verebbten.
Ein wunderbarer Ort.
Steckte nicht im Moor vor ihnen eine Leiche. War da schon wieder ein Tourist ertrunken, weil er dachte, Regeln galten nicht für ihn? Allerdings steckte er nur bis zur Brust im Moor. Ertrunken war er demnach wahrscheinlich nicht. Eine Hand krallte sich an einem kahlen Kiefernast fest, der vor kurzem ins Moor gefallen sein musste. Den hatte wohl der Sturm vor zwei Nächten heruntergerissen, im See lagen noch weitere Äste.
Katharina fuhr sich durch die rote Lockenmähne.
Polizeimeisterin Levke Sörensen sprach aus, was Katharina dachte. „Wie kriegen wir den denn da raus, wenn man hier nicht treten kann?“ Dann rief sie verzückt: „Guck mal, die sind ganz blau!“ Ihre ebenfalls blauen Augen strahlten. „Ich mach ein Foto, Johanna wollte solche schon immer mal sehen!“
Katharina, Pannicke und Polizeihauptmeister Finn Schwaiger – genannt der stumme Finn, wahlweise auch der starke Finn – *musterten die Leiche. Außer den Lippen war nichts blau an ihr. Aber dass ihre Freundin und Mitbewohnerin Johanna von Musing-Dotenow zu Moordevitz schon immer mal blaue Lippen sehen wollte, hielt Katharina für eher unwahrscheinlich.
Es war Pannicke, der begriff, was Levke so faszinierte. „Ah, Rana arvallis! Man hat nicht so häufig das Glück, die Männchen in ihrem Balzkleid zu erleben. Ich werde ebenfalls ein paar Aufnahmen machen, wenn Sie gestatten, Frau Kollegin.“
„Aber gerne doch, wir haben hier ja auch nur einen Toten, der kann warten, bis Rani amaryllis hinreichend abgelichtet wurde. Wovon zur Hölle redet ihr da?“
„Frösche“, meldete sich Finn achselzuckend zu Wort und deutete nach rechts.
„Frösche? Ein paar dämliche Frösche behindern hier meine Ermittlungen?“ Katharina schüttelte den Kopf, musste dann aber insgeheim zugeben, dass die blauen Frösche tatsächlich hübsch aussahen, die da quakend ihre Köpfe aus dem schwarzen Wasser streckten.
„Oh ja“, auch der kurze Meier wollte sein Wissen kundtun, „der Moorfrosch is sonst so braun, aber um diese Jahreszeit …“
Katharina schnitt ihm das Wort ab. „Der Nächste, der was zu Fröschen sagt, wird verhaftet. Aber wenn ihr da schon alle herumfotografiert, macht doch mal Fotos vom Leichenfundort! Meier, wie kriegen wir die Leiche da raus? Wo kommen wir dicht genug an sie ran?“
„Gar nich’“, stellte der kurze Meier fest und betrachtete seelenruhig den Toten.
„Doch, Chefin. Wir rufen die Feuerwehr. Mit der Steckleiter kriegen wir den da raus. Ich ruf Johanna mal an.“ Levke war ebenfalls Mitglied in der Freiwilligen Feuerwehr Moordevitz.
Zwanzig Minuten später erklang das Motorengeräusch eines Lkw auf dem Waldweg. Etwas Großes, Rotes war zwischen den Bäumen zu erkennen. Motorengeräusch und Lkw stoppten, Türen klappten, Rollläden wurden hochgelassen. Dann näherten sich eine kleine Feuerwehrfrau und zwei große Feuerwehrmänner, die eine Leiter und Leinen trugen.
„Hi, Katti. Ihr habt eine Moorleiche, die wir bergen sollen? Zeig mal.“ Johanna von Musing-Dotenow zu Moordevitz, Katharinas Freundin und Mitbewohnerin und zudem die Wehrführerin der Freiwilligen Feuerwehr Moordevitz, sah sich um. „Aha. Wie weit kommt man denn da ran?“
Der kurze Meier zeigte es ihr.
Sein Cousin, der lange Meier, und Truppführer Olli legten die Leiter ab und kamen näher. Der lange Meier nahm den Helm ab und kratzte sich den wirren grauen Haarschopf. „Hatte wohl ’ne ungemütliche Nacht, der arme Kerl. Wieso is’ der tot, wenn er oben rausguckt?“
„Die Nächte sind immer noch kalt“, sagte Johanna. „Wenn er seit Stunden in dem kalten Wasser steckt, ist er vermutlich erfroren. Das Wasser dürfte kaum mehr als zehn Grad haben, das überlebt man nur wenige Stunden. So – die Leiter von hier aus aufs Moor schieben, Jungs. Vorsichtig, Feuerwehren haben Personalmangel, ich will euch nicht im Moor verlieren.“
Johanna und Katharina beobachteten, wie der lange Meier und Olli ein Teil der Steckleiter auf den Toten zu schoben. Sie hatten Glück, die Leiter war lang genug, sie reichte bis an die Leiche, ohne hinten den festen Grund zu verlassen.
Zu dritt gelang es Olli, Finn und dem langen Meier schließlich, die Leiche auf festen Grund zu ziehen. Dann standen alle Polizei- und Feuerwehrkräfte um den Toten herum.
Katharina runzelte die Stirn. „So, wie der aussieht, ist der wohl tatsächlich erfroren.“
Der kurze Meier nickte. „Is’ er wohl. Ertrinken kannste im Moor eigentlich nich’. Treibste auf. Aber wenn de nich’ rechtzeitig rausgeholt wirst, erfrierste. Is’ kalt da drin. Und selber kommste nur raus, wenn de weißt, wie. Saugt sich an dir fest, das Moor.“
Der kurze Meier hatte den Toten gegen sechs Uhr gefunden und Katharina gleich angerufen. Warum sich mit komplizierten Notrufnummern abgeben, wenn man die Handynummer der Kommissarin gespeichert hatte?
„Aber warum ist er denn da überhaupt rein, der Ärmste?“ Levkes Miene spiegelte ihr Mitgefühl.
Katharina kniete sich neben den Toten, um seine Taschen nach Hinweisen auf seine Identität abzusuchen. „Na ja, wenn es ein paar Stunden dauerte bis zum Erfrieren und die Leichenstarre noch nicht voll ausgebildet ist, dann ist der heute Nacht ins Moor geraten. Er ist wohl im Dunkeln vom Weg abgekommen. Wer bitte macht eine Wanderung nachts im Moor?“ Katharina erhob sich wieder. „Nichts. Kein Ausweis, kein Führerschein. Nur die Visitenkarte von der Moorperle.“
Pannicke hob anerkennend die Augenbrauen. „Die Moorperle. Eine sehr angenehme Pension, anständig, bodenständig, aber nicht rückständig. Ich pflege dort gelegentlich die Kolleg:innen vom Verein ‚Einheimische Amphibien …‘“
„Okay, dann gehen wir beide da als erstes hin“, unterbrach Katharina ihn. Pannicke war daran schon gewöhnt und schüttelte nur seufzend den Kopf.
„Levke, Finn, ihr kümmert euch um den Abtransport des Toten, bevor noch nichts ahnende Urlauber auf ihn stoßen und der Tourismus-Manager wieder eine Krise …“
„Tourismus-Managerin“, warf Johanna ein.
„Wie?“
„Die neue ist eine Sie. Jennifer Lang. Seit zwei Monaten. Aus Bayern. Sie plant mit Tante Hilde die Moorgeisterwanderung und wird vermutlich wirklich nicht sonderlich begeistert über einen Tatort an ihrer Wanderroute sein. Hoffentlich geht sie nicht gleich wieder zurück nach Bayern. Der Bürgermeister ist froh, dass sie endlich jemanden für die Stelle gefunden haben.“
„Im Gegenzug bin ich nicht sonderlich begeistert über Wanderungen durch meinen Tatort. Der übrigens nur ein Fundort ist. Bislang sieht es eher nach einem Unfall aus.“
„Was hat er denn da?“ Levke deutete auf die rechte Hand des Toten.
„Wie? Wo?“ Katharina hockte sich wieder hin und betrachtete die Hand. „Haare. Blonde Haare. Lange blonde Haare.“
„Das Opfer ist hingegen dunkelhaarig. Ein sehr dunkles Braun. Zudem sind seine Haare als eher kurz zu bezeichnen“, stellte Pannicke fest.
„Wenn das nicht seine Haare sind, haben wir dann keinen Unfall, sondern einen Mord?“ Levkes Augen leuchteten schon wieder.
Katharina dämpfte ihre Begeisterung. „Es muss ja nicht gleich ein Mord sein, nur weil der vielleicht nicht allein hier unterwegs war. Aber in dem Fall möglicherweise unterlassene Hilfeleistung. Gut, also dann sichert ihr zwei den Fundort und ruft die Spusi. Vielleicht kriegen die raus, ob das hier auch ein Tatort ist. Pannicke, wir besuchen die Moorperle. Und – nein, Moment. Es wäre ja auch möglich, dass die zweite Person irgendwo im Wald oder Moor ebenfalls in Schwierigkeiten steckt.“
Johanna nickte. „Verstanden. Männers und Frugens, wir suchen die Umgebung ab!“
© Wiebke Salzmann